Mittwoch, 7. Dezember 2016

Taproot Texts: Der Eneasroman

Wen verführt sie nicht, die Tendenz, der Fantasy eine möglichst eindrucksvolle Ahnengalerie zu verschaffen, indem man dozierend anhebt: »Schon Homer und das Gilgamesch-Epos sind nichts anderes als Fantasy ...« So etwas erfordert zunächst nichts anderes als die klare Erwiderung, dass die Fantasy eine ausgesprochen neuzeitliche Veranstaltung ist. Sie ist weitgehend im 19. Jahrhundert entstanden. Allenfalls könnte man über die Gothic Novel, das französische und italienische Kunstmärchen sowie Shakespeares romances noch um etwa 200 Jahre zurückgehen. Bei allen älteren Werken ist es sinnvoll, den von John Clute und John Grant in der Encyclopedia of Fantasy geprägten Begriff des taproot texts zu verwenden. (Eine taproot ist eine lange, dünne Wurzel, die tief in den Erdboden reicht.) Homer und das Gilgamesch-Epos sind Quellen der Fantasy, aber sie sind noch nicht selber Fantasy, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ältere, heroische Züge mit solchen vermischt, die dem neuzeitlichen Roman entnommen sind.

Ein Beispiel für einen solchen taproot text ist Beowulf, das angelsächsische heroische Gedicht aus dem 10. Jahrhundert. Es stellt den weitaus wichtigsten Einfluss auf J. R. R. Tolkiens Gesamtwerk dar. Ein anderes prominentes Beispiel wäre Sir Thomas Malorys Morte d’Arthur aus dem 15. Jahrhundert, der T. H. Whites Once and Future King zugrunde liegt. Ich habe Lust bekommen, in unregelmäßigen Abständen tatsächliche und potentielle Quellen der Fantasy vorzustellen, und beginne mit einem vergleichsweise unbekannten Beispiel.

Welches Buch?

Der Eneasroman des Heinrich von Veldeke, auch unter den Namen Eneit oder Eneide bekannt. Es handelt sich um den ersten höfischen Versroman in deutscher Sprache, verfasst zwischen 1170 und 1188. ›Roman‹ ist hier nicht im Sinne des neuzeitlichen, realistischen Romans zu verstehen, sondern im Sinne des englischen Wortes romance, »a story involving knights, heroes, adventures, quests, etc.«, wie Wiktionary sagt.

Die Entstehungsgeschichte des Romans ist kurios. Der Schriftsteller, der aus niederländischem Adel stammt, wurde von der Gräfin von Cleve gefördert. Die Gräfin konnte es anscheinend kaum erwarten, mit dem Lesen zu beginnen, denn sie lieh sich das unvollendete Werk, das ihr im Trubel ihrer Hochzeitsfeier prompt geklaut wurde. Der Dieb brachte die Handschrift nach Thüringen, wo sie neun Jahre liegen blieb. Endlich erhielt Heinrich die Gelegenheit nach Thüringen zu reisen, und bekam durch die Vermittlung des Landgrafen Hermann von Thüringen sein Werk zurück. Allerdings um einen Preis. Hermann bestand darauf, Heinrichs neuer Gönner zu werden, ließ sich das Werk widmen und nahm wahrscheinlich sogar Einfluss auf die Plotgestaltung. So erklärt sich wahrscheinlich die grummelige Bemerkung Heinrichs im Epilog, das Werk sei anders vollendet worden, als er es sich vorgestellt habe.

Worum geht’s?

Heinrich hat sich des Stoffs von Vergils Aeneis angenommen, der Geschichte des Aeneas, der aus dem brennenden Troja flieht und nach allerhand Abenteuern in Italien ankommt und Lavinia heiratet, die Tochter des Königs Latinus. So wird Aeneas zum Stammvater der Latiner_innen, also der Menschen, die in Rom und Umgebung leben. Vergil erzählt einen Gründungsmythos für Rom. Lavinia bleibt dabei eine blasse Figur im Hintergrund. Dem römischen Dichter geht es allein um Aeneas, den exemplarischen Helden. Über ihn wird die Geschichte Roms mit der Trojas verknüpft, die in der Antike wie im Mittelalter als Inbegriff des Heroischen galt. Lavinia wird eigentlich nur gebraucht, damit Aeneas Nachkommen zeugen kann, unter denen sich auch Romulus befindet, der Gründer Roms.

Anders als Vergil interessierte sich Heinrichs höfisches Publikum sehr für Liebesgeschichten. Heinrichs direkte Vorlage ist passenderweise nicht die Aeneis, sondern der französische Roman d’Énéas, der ein paar Jahrzehnte vor Heinrichs Werk entstand. Schon im französischen Roman wurde die Figur Lavinias stark ausgebaut, und Heinrich folgt dieser Tendenz. Der Eneasroman ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil landet Eneas (wie Heinrich ihn nennt) mit seinen Leuten in Karthago, dem heutigen Tunis, wo Königin Dido regiert. Dido ist eine interessante Figur, nicht nur Herrscherin eines mächtigen Reiches, sondern auch persönlich stark und unabhängig. Zu Eneas entbrennt sie nach einem One-Night Stand auf einem Jagdausflug in heftiger Liebe und beginnt aktiv um ihn zu werben. Didos Hof sieht das allerdings gar nicht gern, denn die Königin hat nach dem Tod ihres ersten Mannes geschworen, nicht wieder zu heiraten.

Und Eneas weiß ohnehin, dass ihm anderes bestimmt ist. Er tritt eine Reise in die Unterwelt an, die ihm sein künftiges Schicksal erhellen wird. Die Unterwelt ist dabei kurioserweise als christliche Hölle geschildert, also als Ort der verdammten Seelen. Mitten darin befindet sich aber das Elysium, nach antiker Auffassung der paradiesische Ort, an dem sich die großen Heroen nach ihrem Tod aufhalten. Heinrich versucht also, antik-heidnische mit mittelalterlich-christlichen Vorstellungen vom Jenseits zu verbinden. Im Elysium trifft Eneas auf seinen Vater Anchises, der ihm seine Zukunft enthüllt. Dido ist unterdessen an Liebeskummer gestorben.

Gemäß den Anweisungen seines verstorbenen Vaters macht sich Eneas (im zweiten Teil) mit seinen Leuten ins Reich des Königs Latinus auf. Der weiß aufgrund einer Prophezeiung schon, dass seine Tochter einem fremden Helden bestimmt ist, und hat deshalb nichts dagegen, dass sich zwischen Lavinia und Eneas innige Liebe anbahnt. Turnus, ein Gefolgsmann des Königs, ist jedoch sehr erzürnt, dass ein übers Mittelmeer dahergekommener Flüchtling die Prinzessin heiraten soll. Er stellt ein Heer auf, mit dem er die Eindringlinge vertreiben will. Nach einer Reihe von Schlachten und Belagerungen gelingt es Eneas jedoch, Turnus im Zweikampf zu besiegen, und dem Glück mit Lavinia steht nichts mehr entgegen.

Wie liest sich das?

Gut. Es gibt jede Menge Kämpfe, und die Reise in die Unterwelt ist sehr atmosphärisch geschildert. Dabei spielt sich die Handlung nicht wirklich in der Antike ab. Die Figuren kämpfen, jagen und techtelmechteln wie im höfischen Mittelalter. Bei Vergil greifen (ähnlich wie bei Homer) die Gottheiten ständig in die Geschicke der Menschen ein. Dieser Aspekt, den Heinrich seinem christlichen Publikum wohl nicht zumuten wollte, ist im Eneasroman stark reduziert. Einzig die Liebesgöttin Venus spielt eine prominente Rolle, da sie die ganze Zeit ihre schützende Hand über Eneas hält. Eine Episode aus dem Nachtleben der Götter ausführlich zu schildern, lässt Heinrich sich denn auch nicht entgehen: Venus betrügt ihren ungeliebten Gemahl Volcanus mit dem Kriegsgott Mars. Volcanus, der Schmiedegott, hat den Seitensprung allerdings kommen sehen und konstruiert ein magisches Netz, mit dem er Venus und Mars direkt aus dem Bett fischt. Er lädt dazu die ganze Götterversammlung ein, die sich beim Anblick des ertappten Paares, das nackig im Netz herumstrampelt, schier kaputt lacht.

Die Episode hat insofern eine wichtige Bedeutung für die Handlung, als sich Venus mit Volcanus versöhnen muss, damit er Eneas die perfekte Rüstung schmiedet, die dieser wiederum braucht, um Turnus zu besiegen. Venus tut also alles dafür, damit Eneas die wahre Liebe findet. Das lässt sich überhaupt als Thema des Romans beschreiben: Während die Beziehung zwischen Dido und Eneas als krankhaft dargestellt wird, weil Dido beim Anbahnen der Affäre den aktiven Part übernimmt, sich also zu ›männlich‹ verhält, läuft bei Lavinia/Eneas alles, wie es sein soll – denn Lavinia wartet prinzessinnenhaft darauf, dass der junge Recke aus fremden Landen eintrifft und um ihre Hand anhält. Interessanterweise ist auch Turnus’ Heer durch ein Übertreten von Geschlechternormen gekennzeichnet: In seinen Reihen kämpft die Jungfrau Camilla, die wie ein männlicher Ritter gerüstet ist. Heinrich stellt also starke, transgressive Frauen dar, aber nur, um sie letztlich scheitern zu lassen. Dagegen tritt Lavinia als das Ideal einer höfischen Jungfrau auf.

Hat das die Fantasy wirklich beeinflusst?

Wahrscheinlich nicht direkt. Ursula K. Le Guin hat jedoch mit Lavinia einen Roman geschrieben, der die Handlung aus der Perspektive der Titelfigur erzählt. Und zwar (wie immer bei dieser Autorin) auf hervorragende Weise. Le Guin setzt sich dabei vor allem mit Vergil auseinander. Es wäre aber eine interessante Frage, ob Le Guin auch mit den mittelalterlichen Bearbeitungen des Aeneasstoffs vertraut ist, die den weiblichen Figuren deutlich mehr Aufmerksamkeit widmen als der römische Dichter.

Wo kann ich das lesen?

Es gibt eine Reclam-Ausgabe, die den mittelhochdeutschen Text mit neuhochdeutscher Übersetzung enthält. Die Übersetzung stammt von Ludwig Ettmüller. Zusätzlich enthält der Band einen Kommentar von Dieter Kartschoke.

Keine Kommentare:

Foto-Disclaimer

Das Foto im Blog-Header wurde freundlicherweise von Sandra Rugina zur Verfügung gestellt. Es zeigt den Bâlea-See in den rumänischen Karpaten. Alle Rechte liegen bei der Autorin.